Astrids Geschichte
Später Anfang, große Liebe: vom Start in die Porträtfotografie mit 50
Astrid klopfte sich das Mehl vom schwarzen Pulli. Hätte sie sich eigentlich denken können, dass das keine gute Kleiderwahl war. Schließlich gab es selten ein Shooting, bei dem sie nicht entweder irgendwo hochkletterte oder – so wie jetzt – auf dem Boden lag. Für die richtige Perspektive. Für die besondere Perspektive. »Ach, egal, ich bin ja eh nicht mit drauf«, dachte sie sich und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen vor der Kamera.
Vor ihr stopften sich zwei Models genüsslich riesige Sahnetorten in den Mund. Die Szene war chaotisch und bunt, mit Sahne und Krümeln, die überall herumflogen. Aber Astrid vergaß die Mehlwolken um sich herum und das Chaos um sie herum und fing jeden Moment mit der Kamera ein, die Augen fest auf den Sucher gerichtet. Mitten in einer Bäckerei, im traditionsgeladenen Bayreuth, an einem grauen Montagmorgen, war sie ganz in ihrem Element. Sie ließ sich völlig von ihrer Kreativität leiten und verlor sich darin. Der Rest der Welt verschwand, und es zählte nur noch das Bild vor ihr.
Hätte jemand vor knapp 50 Jahren in eine Kristallkugel geblickt und diese Szene darin gesehen, er hätte sich vielleicht gar nicht so sehr gewundert. Denn er hätte gleichzeitig ein etwa sechsjähriges Mädchen gesehen, das stolz seine erste Kamera in den kleinen Händen hielt und das »Ritsch-Ratsch-Klick«-System dieser Kamera erklärte.
Und wahrscheinlich hätte er auch die Mutter des Mädchens gesehen, ebenfalls mit einer Kamera in der Hand, wie sie zusammen fotografierten.
Und dann hätte er gesagt: »Ja, die Astrid, die wird bestimmt mal Fotografin.«
Zwischen Familientradition und verborgenem Erbe
Aber hätte derselbe Jemand Astrid etwa 15 Jahre später beobachtet, wie sie morgens um sechs in die Firma ihres Vaters kam, hätte er wohl den Kopf geschüttelt. Da war keine Spur von der kleinen Fotografin von damals. Stattdessen sah er eine junge Frau, die in die Fußstapfen ihrer Familie trat, in einer Welt voller Zahlen und Maschinen, weit weg von der Kunst und Kreativität, die sie einmal fasziniert hatte.
Geboren in München und aufgewachsen in Mittelfranken, wurde Astrid von zwei Dingen geprägt: der Kamera ihrer Mutter und den Heizkesseln ihres Vaters. Für ihre Mutter war die Fotografie ein fester Bestandteil des Lebens – ein leidenschaftliches Hobby. Sie hatte ein außergewöhnliches Auge für Details und Momente und fotografierte alles analog. Die Negative ihrer Aufnahmen bewahrte Astrid bis heute in einem großen Karton auf.
Es war wie ein kleines Vermächtnis – ein kreatives Erbe, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte und das Astrid in sich trug. Es begleitete sie, oft unbemerkt, wie ein stiller Anker in schwierigen Zeiten.
Doch zunächst schlug Astrid einen ganz anderen Weg ein und trat in die Fußstapfen ihres Vaters. Nach einer Lehre in einem der großen Bankhäuser zog es sie ins Familienunternehmen, hin zu den Heizkesseln und Maschinen. Sie arbeitete hart, entschlossen, dem Klischee der verwöhnten Unternehmenstochter zu entkommen.
Morgens um sechs war sie schon in der Firma, und oft war sie auch an den Wochenenden da. Die Geschäftswelt lag ihr; das Handwerk und die Bodenständigkeit der Menschen, mit denen sie arbeitete, wuchsen ihr ans Herz.
Und so begann sie ganz selbstverständlich, sich ein Netzwerk aufzubauen, bestehend aus Menschen, die den Wert von Beständigkeit und Verlässlichkeit kannten.
Ein unerwarteter Neuanfang
Genau dieses Netzwerk sollte später eine zentrale Rolle in ihrer Fotografie spielen. Doch das wusste sie damals, mit dreißig, noch nicht. Sie ahnte nicht, dass der Weg, der vor ihr lag, noch viele Biegungen machen würde.
Von dort aus konnte sie nicht sehen, wie wichtig diese Zeit für ihre spätere Arbeit sein würde – dass jedes Treffen, jede neue Verbindung und jede Erfahrung Teil des großen Ganzen war, das sie schließlich zur Fotografie führen würde.
Als die Familie 2010 einstimmig beschloss, dass es Zeit war, das Familienunternehmen zu verkaufen, war Astrid vierzig. Kurz darauf wurde ihre Mutter schwer krank. Es war keine einfache Zeit – im Gegenteil. Doch gerade in dieser Phase meldete sich die Fotografie wieder stärker in Astrids Leben.
Sie zog es immer öfter mit ihrer Kamera in die Natur, suchte dort Ruhe und Klarheit, um den Kopf freizubekommen. Die Bilder, die sie einfing, wurden zu einem Spiegel ihrer eigenen Gefühle, eine Art Ausgleich, eine Flucht aus der Realität und gleichzeitig ein Weg zurück zu sich selbst.
Trotz dieser wiederentdeckten Leidenschaft sollte es weitere zehn Jahre dauern, bis sie sich endgültig für die Fotografie entschied. Zunächst gründete Astrid ein mobiles Büro und machte sich auf den Weg zu Handwerkern in der Region, um ihnen bei der Buchhaltung zu helfen – eine Aufgabe, die vielen Handwerkern schwerfiel, die Astrid jedoch lag. Zudem arbeitete sie als Berufsbegleiterin und unterstützte Menschen dabei, sich aus schwierigen Lebenssituationen zu befreien. Ironischerweise brachte sie diese Arbeit selbst in eine unerwartete Krise.
Nach zehn Jahren Selbstständigkeit nahm ihr ein Rechtsstreit mit der Rentenversicherung den Wind aus den Segeln. Ein Moment, der sie tief erschütterte und ihre bisherige berufliche Basis infrage stellte. Doch ob Schicksal oder nicht – später erkannte sie, dass genau dieser Rückschlag ihrem Leben eine neue Richtung gab.
Es war der Anstoß, den sie brauchte, um das Leben als Fotografin endlich ernsthaft anzugehen. Mit fünfzig fand sie schließlich ihren Weg zur Fotografie zurück. Ein Alter, das sie als perfekt empfand, um die eigene Kreativität voll auszuleben. Sie wusste jetzt, wer sie war und was sie wollte. Und sie hatte die Freiheit und Reife, ihre kreative Seite in all ihren Facetten an die Oberfläche zu lassen.
Kunst, Mut und ein eigener Stil
Astrid musste weder sich selbst noch anderen etwas beweisen. Endlich konnte sie tun, was sie wirklich wollte – ohne Selbstzweifel, ohne Unsicherheiten. Und was sie wollte, war zunächst einmal, richtig fotografieren zu lernen. Denn obwohl seit ihrer «Ritsch-Ratsch-Klick«-Kamera schon einiges an Technik in ihren Kamerarucksack gewandert war, blieb sie bisher im Automatikmodus stecken. Also meldete sie sich für einen Fotokurs an. Dieser brachte nicht nur neues Wissen, sondern auch eine wundervolle Community in ihr Leben, die ihr noch mehr Inspiration und Kunst schenkte.
Zum ersten Kamerarucksack gesellte sich bald ein zweiter. Vollbepackt stapfte sie durch die Natur und fing Landschaften ein. Die Fotografie war für sie ein Ventil, und bald kam der Gedanke auf: »Vielleicht könnte ich damit auch Geld verdienen.« Doch schnell stellte sie fest, dass sich Landschaftsfotografie nur schwer als Haupteinnahmequelle eignet.
Und obwohl sie sich anfangs gar nicht vorstellen konnte, Menschen vor ihrer Kamera zu haben, kam sie der Anfrage einer Freundin nach und machte ein paar Porträts von ihr. Dieser Moment veränderte alles. Astrid entdeckte, wie gut sich durch Porträtfotografie Geschichten erzählen lassen. Sie stimmte immer mehr Shootings zu und merkte schnell, dass sie mehr wollte, als nur Schönheit und Harmonie festzuhalten. Sie wollte echte Geschichten erzählen, und das auf eine ganz eigene Weise.
Das »normale« Porträt wurde ihr bald zu schlicht. Sie wollte Grenzen sprengen, etwas Neues und Einzigartiges schaffen. Also entwickelte sie einen Plan und meldete mit dieser Vision ihr eigenes Gewerbe an. Bereit, in einen neuen Abschnitt ihres Lebens als Fotografin zu starten.
Shutdown
Das war im Frühling.
Frühling 2020.
Corona brach aus, und der erste Shutdown zwang die Welt in eine ungewohnte Isolation. Shootings mit Menschen? Vielleicht noch im Studio? Undenkbar.
Doch Astrid ließ sich nicht entmutigen. Dies war kein Untergang, sondern nur ein weiterer Richtungswechsel. Der Wind wehte sie zurück zu ihren Wurzeln: der Landschaftsfotografie. Mit diesen Bildern und einem kleinen finanziellen Polster aus ihrer vorherigen Selbstständigkeit hielt sie ihr Geschäft über Wasser. Sie wartete geduldig und konzentrierte sich darauf, ihre Kunst am Leben zu halten. Denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihre wahre Leidenschaft den Menschen und ihren Geschichten galt – und das wollte sie auf eine ganz besondere Art einfangen.
So vergingen die Jahre 2020 und 2021.
Zurück zum Anfang – und doch ganz woanders
Und dann war der Moment gekommen. Oder war er es? Ganz sicher war sie sich nicht, wie genau ihr Weg in der Fotografie weitergehen sollte. Ein Mentor riet ihr schließlich, sich auf ein festes Thema zu spezialisieren und darin ein Netzwerk aufzubauen, das ihr Zugang zu Aufträgen verschaffen würde. »Ein Netzwerk?«, dachte sich Astrid und lächelte. »Das habe ich doch bereits – aus meinen Jahren im Familienunternehmen.« Ein Netzwerk, das aus Handwerkern bestand. Und so rief sie »Franconian Handcraft« ins Leben – ein Projekt, das ihrer kreativen Vision eine neue Richtung gab und gleichzeitig ihre Liebe und ihren Respekt gegenüber dem traditionellen Handwerk zum Ausdruck brachte.
Sie begleitete Optiker, die ihre Gläser noch immer von Hand schliffen. Verbrachte Stunden und Tage in der Küche eines Kochs, um zu beobachten, wie aus einfachen Zutaten wahre Kunstwerke wurden. Sie war oft überrascht und beeindruckt, wie viel Handarbeit und Herzblut in so vielen Berufen steckten, und wie lebendig die Tradition hier in Bayreuth geblieben war. Ihre Kunden – Handwerker, die ihre Kunst schätzten – wussten, dass sie von ihr weit mehr als bloße »Ablichtungen« bekamen.
Und so führte ihr Weg sie auch in die Backstube einer kleinen, traditionsreichen Bäckerei. Zwischen Mehlwolken und süßem Gebäck klopfte sie sich das Mehl von ihrem schwarzen Pullover, während sie zwei Models beobachtete, die genüsslich Sahnetorten verzehrten. Genau hier, in diesem Moment, spürte sie wieder die kreative Freiheit und den Humor, die sie so sehr liebte – womit wir wieder am Anfang unserer Geschichte angelangt sind.
Kunst, die aneckt, berührt und verändert
Doch glücklicherweise war dies nicht das Ende, sondern vielmehr der Anfang von etwas Großem. All die Kreativität, die sich über die Jahre als Unternehmerin in Astrid angestaut hatte, brach jetzt mit voller Wucht an die Oberfläche, wie eine Ketchupflasche, die man mit einem kräftigen Schlag auf den Tisch zum Fließen bringt. Zur Landschaftsfotografie und dem Projekt »Franconian Handcraft« gesellte sich nun die Porträtfotografie – doch natürlich nicht die gewöhnliche Art.
Eine ihrer unvergesslichsten Aufnahmen entstand dabei in einer alten Fabrik. Eine Kundin hatte sich eine Lost-Place-Session gewünscht, doch passende Locations in der Region zu finden, erwies sich als schwierig. Astrid fand schließlich ein verlassenes Fabrikgebäude, das genau das bot, was sie suchte: ein braun gefliestes Badezimmer aus den Sechzigerjahren. Mit einem Augenzwinkern inszenierte sie das Setting, kaufte einen Playboy, drehte der Kundin Lockenwickler in die Haare und erschuf eine Szene, die gleichermaßen humorvoll und tiefgründig wirkte. Hinter dem Bild lag eine besondere Geschichte: Die Kundin, die vor schweren Operationen stand, wollte mit diesem Bild ein Statement setzen – »Ich scheiß’ auf das Leben«. Auf Instagram zog das Bild eine Welle der Kritik auf sich, doch Astrid wusste, dass nur die Beteiligten die wahre Geschichte dahinter kannten und dass jedes Bild mehr als nur die Oberfläche war.
Astrid verstand sich als Künstlerin, die Geschichten erzählte, die keine Worte brauchten. Manche Geschichten waren skurril, andere melancholisch oder provokant, aber alle trugen einen Teil von ihr selbst in sich. Ihre Kunden suchten das Einzigartige, das Außergewöhnliche, das ihre Persönlichkeit widerspiegelte – die »normale« Fotografie überließ Astrid anderen.
Und obwohl sie sich in ihren eigenen kreativen Welten bewegte, war Astrid keineswegs eine Einzelgängerin. Im Gegenteil, sie schätzte den Austausch. Ihre Foto-Freundinnen waren ein festes Netzwerk, und sie besuchte Foto-Festivals, ließ sich inspirieren und probierte neue Techniken aus. Einmal im Jahr stellte sie sich sogar selbst vor die Kamera, um sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, auf der anderen Seite zu stehen.
Wenn die Ratschläge und Meinungen wie ein Wirbelsturm um sie tobten, zog Astrid klare Grenzen. Sie hörte aufmerksam zu, wusste aber auch, wann es Zeit war, »Stopp« zu sagen, um ihre eigene Kreativität zu schützen. In solchen Momenten zog sie sich mit ihren Modellen zurück und vertraute nur auf ihre eigenen Ideen. Oft fragte sie auch ihren Mann: »Würdest du das als Normalmensch so kaufen?« Er war ein Zahlenmensch, kein Künstler, und nicht selten ihre erste Wahl bei kreativen Fragen. »Manchmal frage ich lieber jemanden, der nicht vom Fach ist. So bekomme ich eine ehrliche Meinung, aber keine fertigen Ratschläge – und kann den Rest selbst ausfüllen.« Für Astrid war Kreativität ein Prozess, der Raum und Zeit brauchte. Sie schöpfte vielleicht aus einem Foto, das jemand anders gemacht hatte, aus einer beiläufigen Bemerkung oder einer spontanen Idee – doch das Feuer, das daraus entflammte, war immer ihres, ein Ausdruck ihrer eigenen Vision.
Um ihren Kopf frei und kreativ zu halten, fuhr Astrid einmal im Jahr für einige Tage allein an die Nordsee. Dort ließ sie sich von der frischen Meeresbrise durchpusten, nahm ihre Kamera mit und fand in der Weite der Landschaft zu sich selbst. »Wenn mir jemand erzählt, sein Kopf sei so voll«, sagte sie oft, »dann antworte ich: Geh raus aus Instagram und rein in die Natur. Dort findest du wahre Inspiration, nicht nur Kopien.«
In einer Welt, die so oft nach dem Perfekten strebte, fand Astrid Schönheit im Unperfekten, im Spontanen und im Skurrilen. Sie wusste, dass ihre Art der Fotografie nicht für jeden verständlich war, doch für sie war es der richtige Weg – ein Weg, der all ihre Erfahrungen, das Vermächtnis ihrer Mutter und ihre eigene, ungewöhnliche Reise vereinte.
Die Bilder, die sie schuf, waren mehr als Fotografie. Sie waren eingefangene Momente, interpretiert durch ihren einzigartigen Blick auf die Welt und geformt durch die Summe all ihrer Erfahrungen. Und das war für Astrid die wahre Kunst – eine Kunst, die ihren Weg und ihre Geschichte in jedem Bild lebendig machte.
Ende

Hi, ich bin Tine
Ich liebe es, Geschichten von Fotografinnen zu erzählen – von den ersten Schritten bis zu großen Erfolgen. Am liebsten bei einer Tasse Kaffee, denn jede Geschichte entfaltet sich wie ein gutes Gespräch: inspirierend, ehrlich und voller unerwarteter Wendungen. Lass dich mitnehmen, lerne aus den Erfahrungen anderer und finde neue Impulse für deinen eigenen Weg.

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