Evas Geschichte
Der graue Alltag und die verlorene Magie
Eva saß in ihrem kleinen, dunklen Büro und starrte auf den Bildschirm. Die Neonröhre summte über ihr, und die heruntergelassenen Jalousien schienen den grauen Himmel fast zu verschlucken. Es war ein trister Nachmittag, einer von vielen, an denen sie sich fragte, wie sie hier gelandet war. Als Produktdesignerin in Kassel hatte sie sich ihr Leben nach dem Studium eigentlich anders vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass ihre Kreativität freien Lauf haben würde, dass sie inspirierende Dinge erschaffen würde. Stattdessen saß sie hier, gefangen in einem Bürojob, der sie jeden Tag mehr zu erdrücken schien.
Sie erinnerte sich an die Zeit in Düsseldorf, wo sie Kommunikationsdesign studiert hatte. Damals, in den vollen, lauten Straßen der Stadt, hatte sie sich in ihre Zeichnungen zurückgezogen. Fantasy-Illustrationen, magische Welten voller Naturwesen – all das war ihr so leicht von der Hand gegangen. Sie hatte die Magie der Natur immer gesucht, in jeder Blume, jedem Baum, jedem Sonnenstrahl, und sie hatte diese Magie in ihren Zeichnungen festgehalten. Doch nun, Jahre später, schien all das verschwunden zu sein.
»Das hier ist einfach keine Magie«, murmelte sie leise vor sich hin, während sie gedankenverloren auf den blinkenden Cursor auf ihrem Bildschirm starrte. Sie fühlte, wie ihr Herz schwer wurde, als ihr klar wurde, wie sehr sie sich von ihrer einstigen Leidenschaft entfernt hatte.
Der Moment der Erkenntnis
An diesem Abend, als sie erschöpft nach Hause kam, bemerkte ihr Mann sofort ihre gedrückte Stimmung.
»Alles okay bei dir?« fragte er, während er ihr eine Tasse Tee hinstellte und sich zu ihr auf die Couch setzte. Eva starrte ins Leere und schüttelte den Kopf.
»Ich kann das so nicht mehr weitermachen«, sagte sie schließlich. »Jeden Tag dasselbe, keine Inspiration, keine Freude. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Kreativität verliere.«
Ihr Mann sah sie lange an, bevor er sprach. »Vielleicht solltest du überlegen, was dich wirklich glücklich macht. Was würdest du tun, wenn du die freie Wahl hättest?«
Eva dachte einen Moment nach und zuckte dann mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Irgendwas Kreatives, denke ich. Aber das habe ich doch schon probiert und bin gescheitert.«
»Bist du das wirklich?«, fragte er sanft. »Erinnerst du dich noch an die Zeit, als du gezeichnet hast? Wie viel Freude dir das gemacht hat?«
Eva dachte einen Moment nach. Natürlich erinnerte sie sich daran. Stundenlang hatte sie in ihren Skizzen versunken gesessen, dabei alles um sich herum vergessen. Die Magie der Natur hatte sie immer fasziniert, und sie hatte versucht, diese Magie in ihren Zeichnungen einzufangen. Aber das war lange her. Jetzt war sie in der Realität angekommen, und die Realität war alles andere als magisch.
Eine Kamera und ein neuer Blick auf die Welt
Doch kurz nach diesem Gespräch sollte sich alles ändern. Es war das Frühjahr, als der erste Corona-Shutdown kam. Plötzlich hatte Eva mehr Zeit, als sie je gedacht hätte. Zeit, die sie nutzte, um in die Natur zu gehen und Abstand von ihrem tristen Büroalltag zu gewinnen.
Es war ein sonniger Tag, als sie am späten Nachmittag durch das Umland von Kassel wanderte. Der Wind wehte sanft durch die Bäume, und die Vögel zwitscherten in der Ferne.
Sie blieb stehen und atmete tief ein. In diesem Moment fühlte sie etwas in sich aufsteigen, eine Ruhe, die sie lange nicht mehr gespürt hatte.
Sie fühlte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Und Eva konnte nicht anders, als sich zu fragen: »Warum habe ich das nicht früher bemerkt?«
All die Magie, nach der sie in ihren Zeichnungen gesucht hatte, war die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase gewesen – in der Natur, umgeben von Hügeln, Wiesen und Wäldern. Es war, als hätte jemand einen Schleier vor ihren Augen weggezogen, und plötzlich sah sie die Welt mit neuen Augen.
»Das ist es«, flüsterte sie. »Das ist die Magie, nach der ich immer gesucht habe.«
Und in diesem Moment wusste sie einfach, was sie tun musste. Sie würde die Magie nicht mehr nur zeichnen, sondern mit ihrer Kamera einfangen. Der Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen.
Sie hatte ihre Kamera seit dem Studium nicht mehr benutzt, aber sie wusste, dass sie sie wieder in die Hand nehmen musste.
Die ersten Bilder
Am nächsten Tag suchte sie ihre alte Kamera heraus, die verstaubt in einer Ecke ihres Arbeitszimmers lag.
Es fühlte sich ein bisschen seltsam an, sie nach so langer Zeit wieder in den Händen zu halten, doch ihre Finger fingen wie von selbst an, die Knöpfe zu bedienen und an den Rädchen zu drehen, um die richtigen Einstellungen vorzunehmen.
Und als sie den Auslöser drückte und das vertraute Klicken hörte, kam alles zurück. Eva verbrachte Stunden draußen, fotografierte alles, was ihr vor die Linse kam – die ersten Frühlingsblumen, die sanft in der Brise schwankten, den Sonnenuntergang, der die Felder in warmes Licht tauchte. Jeder Moment fühlte sich magisch an.
Und dann kam der Morgen, an dem sie zum ersten Mal wieder das Gefühl hatte, wirklich frei zu sein: Es war noch kühl, und sie war früh aufgestanden, um einen besonders schönen Platz zu fotografieren, den sie in der Nähe eines alten Waldes entdeckt hatte. Die Sonne war gerade erst über den Horizont gestiegen, und der Nebel hing schwer über den Feldern.
Sie spürte, wie der kühle Tau durch ihre Schuhe drang, als sie sich durch das hohe Gras schlängelte, und jeder Schritt schien sie näher zu sich selbst zu bringen. Die Kamera lag leicht in ihrer Hand, und in ihrem Kopf war es ruhig.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie keine Anspannung mehr. Überhaupt keine.
An diesem Morgen stieß sie auf eine Schafsherde, die friedlich auf einer Wiese graste. Die Tiere bewegten sich langsam, ungestört von ihrer Umgebung, und Eva konnte nicht widerstehen, den Moment festzuhalten. Sie hob die Kamera, stellte den Fokus ein und drückte den Auslöser.
Das leise Klicken erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit. Der Kontrast zwischen den warmen Farben des Morgens und dem Nebel war atemberaubend. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln. »Das ist es«, flüsterte sie. »Das ist die Magie!«
Dieser Moment blieb in ihrem Gedächtnis hängen, und sie wusste, dass dies der Weg war, den sie gehen wollte. Sie hatte angefangen, die Welt mit anderen Augen zu sehen – als eine Künstlerin, die die Magie des Alltags einfing. Ihre Fotografien wurden zu einer Art Tagebuch, einer Sammlung von Augenblicken, die sie mit der Welt teilen wollte. Es ging nicht nur darum, Bilder zu machen, es ging darum, Geschichten zu erzählen.
»In jeder Landschaft steckt eine Geschichte«, sagte sie oft zu ihren Freunden, wenn sie über ihre Fotografie sprach.
»Es geht gar nicht so richtig darum, was man sieht, sondern eher darum, was man fühlt.«
Ihre Fotos sollten diese Gefühle transportieren – die Stille eines frühen Morgens, die Kraft eines tosenden Sturms, das sanfte Licht der Abendsonne, das sich in den Wolken verfing. Sie hatte die Magie in der Natur gefunden und sie in ihren Bildern eingefangen.
Zwischen Zweifel und Wachstum
Von da an wusste Eva, dass sie ihre Leidenschaft gefunden hatte. Doch was genau sie daraus machen wollte, das wusste sie noch nicht.
In den ersten Monaten fotografierte sie vor allem die Hunde ihrer Freunde, um weiter zu üben. Sie lernte, mit verschiedenen Lichtsituationen umzugehen, die richtigen Kameraeinstellungen zu wählen und die einzigartigen Persönlichkeiten der Tiere in ihren Bildern einzufangen. Mit jedem Foto wurde sie besser, sicherer, und ihre Leidenschaft wuchs.
Aber wie so oft im Leben ging nicht alles glatt. Es gab Tage, an denen Eva an sich zweifelte. »Was, wenn das alles ein Fehler ist? Was, wenn ich doch nicht gut genug bin?«
Diese Fragen nagten manchmal an ihr, vor allem, wenn sie sah, wie andere Fotografen scheinbar mühelos Erfolg hatten. Sie verglich sich viel zu oft mit anderen, scrollte durch Instagram und fragte sich, ob sie jemals genauso gut sein würde.
»Du musst aufhören, dich mit anderen zu vergleichen«, sagte ihre beste Freundin eines Tages, als sie wieder einmal frustriert war. »Deine Reise ist deine eigene, und du kannst eben nicht erwarten, dass sie genauso aussieht wie die der anderen.«
Diese Worte blieben bei Eva. Sie hatte sich lange von den Meinungen und den Erfolgen anderer beeinflussen lassen, doch langsam begann sie zu verstehen, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste.
»Ich mache das für mich«, sagte sie sich. »Ich mache das, weil es mich glücklich macht.«
Mit der Zeit wurde Eva immer sicherer in dem, was sie tat. Ihre Fotografien sprachen für sich, und die Menschen begannen, auf sie aufmerksam zu werden. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre ersten Aufträge für Biohöfe bekam, die ihre Tiere von ihr fotografieren lassen wollten. Diese Shootings waren für Eva etwas ganz Besonderes. Sie liebte es, die Beziehung zwischen den Tieren und ihren Besitzern einzufangen.
Es ging nicht nur um das perfekte Bild, sondern um das Gefühl, das sie vermitteln wollte. »Ich möchte, dass die Menschen die Liebe und den Respekt spüren, den diese Menschen für ihre Tiere haben«, erklärte sie ihren Kunden.
Die verborgene Magie zwischen Mensch und Tier
Ein besonders erinnerungswürdiges Shooting fand auf einem kleinen Bauernhof statt, auf dem eine Familie schon seit Generationen Schafe züchtete.
Eva hatte den Auftrag bekommen, die Herde zu fotografieren, und sie freute sich schon darauf. Der Tag war klar und sonnig, und die Schafe grasten friedlich auf einer weiten Wiese. Der Bauer, ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht, führte Eva zu einem besonders schönen Platz auf dem Hügel, von dem aus man die ganze Herde sehen konnte.
»Hier oben haben wir den besten Ausblick«, sagte er und nickte zufrieden, als er die Kamera in Evas Händen sah.
»Meine Frau sagt immer, dass wir hier die Seele unserer Tiere sehen können.«
Eva lächelte und stellte ihre Kamera ein. Sie beobachtete die Schafe, wie sie sich frei auf der Wiese bewegten, ohne Hast, ohne Sorge. Sie machte viele Aufnahmen, experimentierte mit dem Licht und den Perspektiven. Es war ein friedlicher Nachmittag, und als sie fertig war, bedankte sie sich bei dem Bauern für seine Geduld.
»Danke dir«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. »Du hast ein gutes Auge für das, was wichtig ist.«
Dieser Satz blieb Eva im Gedächtnis. Es ging nicht nur um Technik oder das perfekte Bild. Es ging darum, das Wesentliche zu sehen, das, was wirklich zählte. Für Eva war es genau das, was sie so lange gesucht hatte – die Magie des Alltags, eingefangen in einem einzigen Moment.
Am Abend saß sie mit ihrem Mann am Küchentisch und erzählte ihm von ihrem Tag. »Ich glaube, ich möchte nicht nur Haustiere fotografieren«, sagte sie plötzlich. »Ich will auch Nutztiere fotografieren – Schafe, Kühe, Pferde. Hier in der Region gibt es so viele Biohöfe und nachhaltige Betriebe. Ich will die Magie dieser Tiere einfangen und zeigen, wie im Einklang mit der Natur gearbeitet wird.«
Ihr Mann lächelte. »Das klingt großartig«, sagte er. »Du solltest es wirklich versuchen.«
Gesagt, getan. Eva baute sich langsam eine kleine Community auf Instagram auf und richtete sich vor allem an Biohöfe und nachhaltige Betriebe. »Ich möchte zeigen, wie viel Magie in der Beziehung zwischen Mensch und Tier steckt«, schrieb sie auf ihrem Profil. »Wie wir im Einklang mit der Natur arbeiten können, ohne sie auszubeuten.«
Doch wie bei allen neuen Projekten gab es auch Herausforderungen. Eine der größten war die Frage nach den Preisen. Eva war oft verunsichert, wenn Kunden nach dem Preis fragten. »Warum glauben die Leute immer, dass Fotografie billig sein muss?«, fragte sie sich eines Abends. »Ich verkaufe doch keine Massenware. Das, was ich mache, ist Kunst.«
Weil Magie entsteht, wenn wir an uns glauben
Ihre beste Freundin, die inzwischen selbst Fotografin geworden war, verstand ihren Frust. »Es ist okay, für das, was du tust, einen angemessenen Preis zu verlangen«, sagte sie eines Tages zu Eva. »Die Menschen müssen verstehen, dass du nicht einfach nur auf den Auslöser drückst. Du fängst Momente ein, die für immer bestehen bleiben.«
Eva dachte lange darüber nach. Sie wusste, dass ihre Arbeit wertvoll war, aber es fiel ihr schwer, sich selbst zu verkaufen. »Es ist einfach emotional«, sagte sie zu ihrem Mann. »Preise sind nicht nur Zahlen. Sie repräsentieren den Wert meiner Arbeit, meiner Zeit, meiner Leidenschaft.«
Doch mit der Zeit lernte sie, selbstbewusster zu werden. Sie nahm an Fotografie-Workshops teil, besuchte Kurse und holte sich Rat bei erfahrenen Fotografinnen. »Es lohnt sich immer, in sich selbst zu investieren«, dachte sie. Mit jedem neuen Shooting wurde sie sicherer, und langsam, aber sicher wuchs auch ihre Kundenliste.
Eines Tages bekam Eva eine Nachricht, die ihr Leben verändern sollte. Eine lokale Firma hatte ihre Fotos auf Instagram gesehen und war so begeistert, dass sie Eva anbot, als Foto- und Videografin für sie zu arbeiten. »Das ist meine Chance«, dachte Eva und nahm das Angebot an. Jetzt hatte sie einen Hauptjob, der sie erfüllte und ihr eigenes kleines Fotobusiness, das sie glücklich machte.
Wobei es Eva eigentlich nie um den Erfolg ging. Es waren die Menschen, die sie auf ihrem Weg traf, die Freundschaften, die sie knüpfte, und die Geschichten, die sie hörte. Jeder Kunde, jedes Tier, jedes Shooting erzählte eine eigene Geschichte, und Eva fühlte sich geehrt, ein Teil davon zu sein.
Ihre Arbeit veränderte nicht nur sie, sondern auch die Menschen, die sie fotografierte. Viele ihrer Kunden sagten ihr, wie dankbar sie waren, dass sie ihre Tiere auf eine Weise einfangen konnte, die sie selbst nie gesehen hatten. »Du hast uns gezeigt, wie besonders unsere Beziehung zu ihnen wirklich ist«, sagte eine Kundin einmal zu ihr, als sie ihr die Fotos ihrer Hunde zeigte.
Für Eva war das das größte Kompliment, das sie bekommen konnte. Es war nicht nur Fotografie, es war ein Weg, die Welt zu sehen und sie mit anderen zu teilen.
Eines Nachmittags, als sie gerade auf dem Weg zu einem weiteren Shooting war, blieb sie kurz stehen, um die Aussicht auf das Umland von Kassel zu genießen. Der Wind spielte mit ihrem Haar, und sie atmete tief ein.
»Ich habe es geschafft«, dachte sie. »Ich habe meinen eigenen Weg gefunden.«
Es war ein langer Weg gewesen, voller Zweifel, Herausforderungen und Rückschläge. Aber es war auch ein Weg voller Magie, Entdeckungen und neuer Möglichkeiten. Eva wusste, dass sie noch lange nicht am Ende ihrer Reise war, aber sie war bereit, jeden Schritt zu genießen.
»Die Welt ist voller Magie«, sagte sie oft zu sich selbst. »Man muss nur die Augen offen halten, um sie zu sehen.«
Und genau das tat sie.
Ende

Hi, ich bin Tine
Ich liebe es, Geschichten von Fotografinnen zu erzählen – von den ersten Schritten bis zu großen Erfolgen. Am liebsten bei einer Tasse Kaffee, denn jede Geschichte entfaltet sich wie ein gutes Gespräch: inspirierend, ehrlich und voller unerwarteter Wendungen. Lass dich mitnehmen, lerne aus den Erfahrungen anderer und finde neue Impulse für deinen eigenen Weg.

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