meine Geschichte

Von der Juristin zur Fotografin

Die Urlaube waren ein Problem. Denn im Urlaub war sie jemand anderes. Im Urlaub stand sie nicht jeden Morgen um 5 Uhr 30 auf. Nahm nicht jeden Morgen den Zug um kurz nach 6. Und sie saß auch nicht den ganzen Tag am Schreibtisch. Im Urlaub war sie einfach jemand anderes. Oder war sie im Alltag jemand anderes? Der Alltag war ja an sich nicht schlecht. Er war bequem. Vielleicht ein bisschen grau. Wie eine Wolke, die sie einhüllte und so durch die Wochen trug. Und ohne dass sie es großartig gemerkt hätte, waren wieder einige Monate vergangen. Ohne dass etwas Bemerkenswertes passiert wäre. 

Doch dann war eben wieder ein Urlaub gekommen und hatte die Wolkendecke aufgerissen. Hatte mit Freiheit gewunken und mit Sonnenstrahlen auf ihrer Nase gekitzelt. Hatte sie die Tage in Flipflops verbringen lassen und den Wind durch ihre Haare gepustet. Hatte sie kopfüber ins Meer springen und barfuß auf dem Skateboard fahren lassen. Und natürlich hatte sie ihre Kamera immer griffbereit gehabt. Und sie hatte sich endlich mal wieder lebendig gefühlt. So richtig lebendig. 

Jetzt war der Urlaub vorbei. Sie war wieder um 5:30 aufgestanden. Wartete wieder auf den Sechs-Uhr-Elf-Zug. Um dann wieder den Tag am Schreibtisch zu verbringen. Im Büro. In der Stadt. Doch weil der Urlaub ihre graue Wolke weggepustet hatte, lief sie nun ganz ungeschützt durch den Tag. Die Lichter blendeten sie. Der Lärm störte sie. Der Computerbildschirm nervte sie. Und alles in ihr sträubte sich dagegen, wieder in dieser Alltagswolke zu verschwinden. 

Und diesmal würde das auch nicht passieren. Dieses Mal würde es anders kommen. Doch das wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. 

An diesem ersten Nach-Urlaubstag wusste sie nur, dass sie es irgendwie durch diese endlosen achteinhalb Stunden schaffen musste. Und schaffen würde. Denn sie hatte etwas, worauf sie sich freute. Die Fotos aus ihrem Urlaub. 

Und so verbrachte sie diesen ersten Arbeitstag weniger mit Arbeit, als vielmehr mit der Vorstellung, wie sie am Abend die Speicherkarte in ihren Mac stecken würde. Wie sich der Bildschirm mit Farben füllen würde. Mit Strand und blauem Himmel. Mit weißen Wellen und geliebten Gesichtern. Mit Erinnerungen und mit Herzklopfen. Sie stellte sich vor, wie sie in Lightroom all die Farben leuchten lassen würde. Sodass sie fast das Salz wieder in ihrem Mund schmecken konnte. Doch dann kam es nochmal ganz anders. 


Ein Anruf, der alles veränderte

Als die Uhr oben rechts auf ihrem Bildschirm endlich auf 16 Uhr gesprungen war, raste ihre Maus schon von allein nach links oben und klickte auf das erlösende »Ausschalten«.

Sie schnappte sich ihren leeren Kaffeebecher, hängte sich die Tasche über die Schulter und rief noch ein unbestimmtes »Tschüss bis morgen« in das Großraumbüro. Wobei das »bis morgen« gerade mal ihre Kollegin neben ihr verstehen konnte. Aber die meisten starrten ohnehin auf ihre Bildschirme und bekamen nichts mit.

Draußen wehte ihr der warme Wind der Hansestadt ins Gesicht. Wenigstens ein bisschen Meeresluft. Auch wenn Hamburg ja gar nicht direkt am Meer liegt. Leider. Die Stadt hatte sich trotzdem in ihr Herz geschlichen. Doch weil die Liebe zu einer Stadt ja am Ende doch nie so laut ist, wie die Liebe zu einem Menschen, wohnte sie mittlerweile eben nicht mehr in, sondern nur bei Hamburg. 

So pustete sie der Wind also an diesem Sommernachmittag direkt wieder an den Bahnhof und sie fuhr heim. Zu ihrem Verlobten. Und eben auch zu ihrem Computer und ihrer Speicherkarte voller Urlaubserinnerungen. Und dann klingelte das Telefon. 
Das Bild ihres Verlobten ließ ihr Herz kurz hüpfen. Hatte er doch keine Dienstbesprechung heute? Hätten sie vielleicht doch den Abend zusammen? 

»Hast du Lust, ein Fotoshooting zu machen? Mich hat gerade eine Familie angefragt.« 

»Äh, was bitte?!« Sie war einigermaßen sprachlos. Ja, sie fotografierte schon lange. Seit sie denken konnte, war sie eigentlich immer die mit der Kamera in der Hand. Die, die auf Partys und Geburtstagen für die Bilder zuständig war. Sie hatte zwar keine Profi-Kamera, aber seit sie nicht mehr im Automatik-Modus fotografierte, sahen ihre Bilder auch nicht mehr aus, wie Handy-Schnappschüsse. Aber trotzdem war sie doch keine Fotografin. Oder?

Und dann hörte sie plötzlich ein leises »ja«. Beinah hätte sie es bei all dem lauten Durcheinander in ihrem Kopf gar nicht gehört. Doch da war es. Und es war aus ihrem Mund gekommen. Mehr noch: Sobald sie es gesagt hatte, war plötzlich Ruhe in ihrem Kopf. Und ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch. Ja! Sie wollte dieses Fotoshooting machen. 

Noch auf dem Heimweg legte sie ein neues Pinterest-Board an und füllte es mit Ideen für ihr Shooting. Am Abend kümmerte sie sich daher nicht um ihre eigenen Bilder, sondern bereitete fremde Fotos vor. Und so schloss sich die Alltags-Wolke dieses Mal nicht wieder um sie. Stattdessen begleiteten sie die hellen Sonnenstrahlen noch durch den Rest der Arbeitswoche. Und ließen sie in Gedanken immer ein bisschen bei ihrem ersten Shooting sein. Bis es am Samstag endlich so weit war. Nur, dass sie sich jetzt plötzlich nicht mehr so sicher fühlte. Was für eine Schnapsidee? Wie sollte sie denn ein Shooting machen?! Was, wenn sie total versagen würde?


Zwischen Unsicherheit und Magie – das erste Shooting

Den Kopf voller Ideen und die Tasche voller Ersatzakkus – von denen sie natürlich gar keinen brauchen würde – kam sie am Shooting-Ort an.

Eine Viertelstunde zu früh. Ihr Verlobter war mitgekommen. Sie war nervös. Aber es war eine ganz andere Nervosität, als sie sie von Prüfungen, Vorstellungsgesprächen oder Präsentationen im Job kannte. Es war eher das Kribbeln, dass sie sonst vor einer großen Reise verspürte. Oder, wenn sie im Schwimmbad zum Rand des Dreimeter-Turms lief und ihre Zehen über die Kante des Sprungbretts schob. Einfach abdrücken. Springen. Fliegen?

Und dann ging es los. Die Familie stieg aus dem Auto. Wobei die Kinder eher wie Flummis heraus hüpften und gleich anfingen, die Gegend zu erkunden. 
»Die zwei können einfach nie stillsitzen«, rief die Mama zur Begrüßung. 
»Das macht doch nichts«, sie fischte die Kamera aus dem Rucksack, »das gibt doch die besten Bilder«! 

Und damit war die Sache irgendwie klar. Sie war Fotografin. Nicht, weil sie sich selbst so genannt hätte. Sondern, weil die anderen sie so sahen. Für den Moment reichte das aus, um ihre Selbstzweifel verschwinden zu lassen. 

»Lasst uns da vorne in den Wald gehen« sie zeigte zu einer kleinen Stelle im Wald, an der das Licht sanft durch das Blätterdach fiel und ein umgestürzter Baum eine gute Sitzmöglichkeit bot. Oder, für die zwei kleinen Flummis eine tolle Möglichkeit zum Herumklettern und Herunterspringen. 

Und so flog sie durch das Shooting. Fotografierte, lachte, erzählte, fragte – und hatte keine Sekunde lang das Gefühl, dass sie gerade arbeitete. 

Sie lernte einiges bei diesem Shooting. Sie lernte, dass Posen auf Pinterest sich nicht immer leicht erklären lassen. Dass sie noch nicht mal immer funktionieren. Dass es mindestens zehn verschiedene Arten gibt, auf die Kinder die Gesichter ihrer Eltern verdecken, wenn diese sie hochheben. Dass Eltern zwei Drittel der Zeit ihre Kinder ansehen und während des übrigen Drittels ihren Kindern sagen, dass die doch in die Kamera schauen sollen. Sie lernte, dass Blätter nur gut durch die Luft fliegen, wenn sie komplett trocken sind. Und dass kleine Kinder tatsächlich nie still sind. 

Doch sie lernte auch, dass es für die besten Bilder kaum Anleitung brauchte. Dass es manchmal völlig ausreichte zu sagen: »zähl doch mal die Sommersprossen auf Mamas Nase«. 

Vor allem aber lernte sie, dass es gar nicht um all die Einstellungen auf ihrer Kamera ging. Sondern um die Menschen davor. Und während sie die Belichtungszeit noch manchmal zu lang einstellte und die Blende zu weit öffnete, fand sie genau die richtigen Worte. Weil sie sich wohlfühlte, taten ihre Kunden das auch.

Und auch wenn sie später ein paar der Bilder wieder aussortieren würde, trafen die übrigen genau ins Schwarze. Sie zeigten die neugierige Art des Jungen. Sie zeigten die liebevolle Beziehung zwischen Mama und Tochter. Sie zeigten den Papa als ruhiger Anker der Familie. Und sie zeigten, dass sie vielleicht schon mehr Fotografin war, als sie gedacht hatte.  

So war dieses erste Shooting ganz viel Anfang, ein bisschen Ende, gleichzeitig Zufall und Bestimmung. Und sie wusste, dass sie mehr davon wollte. Viel mehr. 


Die erste Hochzeit

Die Luft schmeckte nach Schnee, als sie sich auf den Weg zum Standesamt machte. Auf dem Rücken ihr nagelneuer Kamerarucksack. Dessen Gewicht sie irgendwie als beruhigend empfand. Eine Kamera, ein 50 mm und zwei Zoom-Objektive. Zwischen 24 und 200 mm hatte sie also alles dabei. Das Standesamt kannte sie aus den Fotos im Internet. Die Braut vom Telefon her. 

Dass sie Hochzeiten anbieten wollte, hatte sich irgendwie richtig angefühlt. Sie hatte nicht länger darüber nachgedacht. Und dass diese nun ihre erste hinter der Kamera sein würde, hatte die Braut auch nicht gestört. »Wir heiraten im nächsten Sommer nochmal groß«, hatte die Braut gesagt. Und damit gemeint, deine Bilder sind jetzt also nicht so wichtig. Sie hingegen hatte verstanden »wenn wir deine Bilder mögen, dann buchen wir dich nächsten Sommer für die große Hochzeit«. Letztlich würde sie die beiden nach heute nie wieder sehen. Und letztlich war das auch völlig egal. Doch davon wusste sie an diesem grauen Vormittag, an dem die Luft nach Winter schmeckte, noch nichts.

Was sie aber wusste war, dass sich dieser Morgen ganz großartig angefühlt hatte. Als sie ihren Milchkaffee im Bett getrunken hatte. Nicht im Zug. Auf dem Schoß das iPad und die schier unendliche Inspiration, die ihr Pinterest bot. Sie hatte sich bei der Arbeit einen Tag freigenommen. Obwohl sie nun natürlich arbeiten würde. Nur eben nicht in ihrem eigentlichen Job, sondern als Fotografin. Fotografin. Sie probierte den Begriff erneut an. Er stand bereits auf ihrer Website. Bei der Gewerbeanmeldung hatte sie “Fotografie” in das Formular eingetragen. Aber so richtig wollte er noch nicht zu ihr passen. Fühlte sich noch zu groß an. 

»Ich fotografiere gleich die Hochzeit.« Sie hatte das Standesamt erst im zweiten Anlauf gefunden. Erst war sie beim Einwohnermeldeamt nebenan gelandet. Gut, dass sie viel zu früh gekommen war. Jetzt stand sie im Zimmer der Standesbeamtin. Graue Haare, freundliches Gesicht, reserviertes Lächeln. Und für einen kurzen Moment warf sie dieser Gleichmut aus der Bahn. Eine Hochzeit war doch immer etwas Besonderes. Oder etwa nicht? 

Die Braut trug ein rotes Kleid. Spaghettiträger trotz winterlicher Temperaturen. Für das Paar war es nicht die erste Hochzeit, für sie als Fotografin schon. Und so wechselte sie vielleicht etwas zu oft das Objektiv, hatte die Bilder schon zwei Stunden nach der Hochzeit fertig bearbeitet und war ein kleines bisschen enttäuscht, dass von der Braut nicht dieselbe Euphorie kam, die sie bei der Auswahl der Bilder verspürt hatte.


Zwischen Erwartungen und Realität – der erste Dämpfer

Die nächsten Monate lief das Business eher ruhig. Sie hatte einige Buchungen, aber nichts, was im Gedächtnis bleiben würde.

Die nächste Hochzeit kam Anfang Juli. Es war ihre erste größere Hochzeit. Mit Getting-Ready, Kutsche und weißem Kleid. Sie war in etwa so aufgeregt, wie die Braut selbst.

Als diese in ihre A-Linie hineinschlüpfte, unterstützt von ihren Freundinnen in den Reifrock stieg, gab sie sich größte Mühe nicht zu viel vom zugestellten Zimmer auf die Fotos zu lassen. 
»Wollen wir noch ein paar Fotos von uns zusammen machen?« Die Trauzeugin blickte erwartungsvoll in die Runde. 
»Klar«, die Braut nickte in ihre Richtung, »dafür haben wir doch die Fotografin.« 
Und so drängelten sich 4 junge Frauen vor die einzige freie Fläche im Raum: die Zimmertür. Und sie machte widerstrebend genau die Bilder, die sie eigentlich hasste. 
Es war der 7.7.2017 und sie war nur gebucht worden, weil die Braut zu spät dran war und sie die einzige freie Fotografin. Und das sagte diese sogar. 

In diesem Sommer nahm sie in den Urlaub nur ihr Handy mit. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Ein bisschen, weil die Fotografie tatsächlich mehr Platz in ihrem Alltag eingenommen hatte. Sie hatte einige Shootings. Kleine Babys, die durchs Gras kullerten. Businessbilder mit viel Glas im Hintergrund. Paare, Freundinnen, Hunde mit ihren Besitzern. 

Doch innerlich wusste sie, dass sie einfach ein bisschen Herzklopfen für die Fotografie verloren hatte. Denn auch wenn die Buchungen sie stolz machten. Die Bilder reichten meist nicht an ihre Pinterest-Erwartungen heran. Sie war irgendwie ein bisschen Fotografin. Und irgendwie auch nicht so richtig. Aber wie konnte sie das ändern? Brauchte sie eine andere Kamera? Noch ein neues Preset? Musste sie lauter werden? Ihren Stil ändern? Sie hatte absolut keine Ahnung.


Wenn alles plötzlich Sinn ergibt – der wahre Anfang

Und dann kam die Änderung irgendwie von allein. In Form einer freien Trauung unter uralten Bäumen in einem wunderschönen Garten. Ein umgebauter Pferdestall diente als Partylocation. Das Brautpaarshooting fand auf abgemähten Stoppelfeldern und im Sonnenuntergang statt. Mit der Braut teilte sie die Liebe zu gutem und viel Kaffee und eine lose Freundschaft. 

Als sie beim getting ready die ersten Fotos machte, schickte die Braut alle anderen aus dem Zimmer. Nur sie durfte bleiben. Nicht nur wegen der Fotos, sondern vor allem, weil sie eine beruhigende Art hatte. Und die Braut sich bei ihr entspannte. Und die Fotos. Die Fotos wurden endlich so, wie sie sie in ihrem Kopf schon lange machte. Ein bisschen Boho, ein bisschen Zuckerwatte und ganz genau sie. 

Später würde sie das Brautpaar noch öfter vor der Kamera haben. Mit Babybauch und Baby im Arm. Sie würde unzählige Kaffees mit der Braut trinken. Aus der losen Freundschaft würde eine tiefe Verbindung werden. Und auch noch Jahre danach würde die Freundin ihr immer wieder sagen, wie sehr sie ihre Hochzeitsbilder liebt. 

Und so ist sie Fotografin geworden. Richtig Fotografin geworden. Indem sie sich fortan auf die Shootings konzentrierte, die ihr am Herzen lagen. Indem sie die Menschen fotografierte, die sie wegen ihrer Art, ihretwegen ausgesucht hatten. Nicht als Notlösung oder weils eh egal war. Und vor allem ist sie zur Fotografin geworden, weil sie sich nicht mehr verstellt hat. Nicht verändert hat. Sondern all das genommen hat, was sie ausmacht und es in ihrer Fotografie eingesetzt hat. Denn am Ende sind es nie nur die Fotos, die unsere Kund*innen wollen. Sie wollen, dass wir genau hinschauen. Und ihre Geschichte durch unsere Augen erzählen. Mit unseren wundervollen Bildern. 

Ende

Tine sitzt auf dem Sofa mit Kaffee in der Hand.

Hi, ich bin Tine

Ich liebe es, Geschichten von Fotografinnen zu erzählen – von den ersten Schritten bis zu großen Erfolgen. Am liebsten bei einer Tasse Kaffee, denn jede Geschichte entfaltet sich wie ein gutes Gespräch: inspirierend, ehrlich und voller unerwarteter Wendungen. Lass dich mitnehmen, lerne aus den Erfahrungen anderer und finde neue Impulse für deinen eigenen Weg.


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