Sylvias Geschichte

Vom ersten Kamerakurs zur Geburtsfotografie

Langsam und gleichmäßig stieg der Dampf von ihrer Kaffeetasse auf. Schwebte in winzigen Nebelschwaden in die Luft und verschwand dann. Sylvia legte ihre Hände um die Tasse und genoss die Wärme. Der Tag hatte noch nicht ganz begonnen. Die Stadt schlief noch. Aber sie war wach. Sie schaute aus dem Fenster auf die vertraute Umgebung. Sie kannte all die Häuser. Mit ihrem Freund hatte sie sich oft Geschichten zu deren Bewohnern ausgedacht. Doch heute war in ihrem Kopf kein Platz für fremde Geschichten. Heute kreisten ihre Gedanken um ihre eigene.

Sie war eigentlich angekommen im Leben. Hatte einen spannenden Job beim Fernsehen, wo jeder Tag eine neue, unerwartete Wendung nehmen konnte, wenn jemand in die Redaktion kam und »Breaking News!« rief. Sie liebte diese Aufregung. Und sie hatte eine wundervolle Beziehung. Sie war angekommen – und spürte doch, dass sie noch einmal weg musste. Erst war es nur eine Idee gewesen. Ein Gedanke, ganz hinten in ihrem Kopf, den sie kaum richtig greifen konnte. Doch dann wurde er immer konkreter. Bis es plötzlich ganz klar war: Sie wollte ein Sabbatical machen. Reisen. Und vielleicht war es diese Abenteuerlust, die sie heute schon so früh aus dem Bett gekitzelt hatte. Als sie einen Schluck von ihrem Kaffee nahm, schmeckte er würziger als sonst. Und sie traf eine Entscheidung: 111 Tage würde sie reisen. Diesen Winter würde sie loslegen.

Sie sah es genau vor sich: Sie würde im Van mit Blick aufs Meer aufwachen. Sie würde an Straßenküchen neue Gerichte probieren, durch entlegene Bergdörfer wandern und in große Städte eintauchen. Sie würde die Sonne auf ihrer Haut spüren, während hier der Winter kam. Einen Teil der Reise wollte sie allein machen. Aber bestimmt würde sie auch ein Stück mit ihrem Freund reisen können. Und mit ihrer besten Freundin. Vielleicht sogar mit ihren Eltern. Und während sie im Kopf eine Reiseroute entwarf, formte sich noch ein anderer Gedanke.

Sie wollte auch all das Neue fotografieren. So richtig. »Wenn schon, denn schon«, dachte sie.

In diesem Moment vibrierte ihr Handy. »Steht unser Kaffeedate noch?«, schrieb ihre beste Freundin.

»Klar«, tippte Sylvia zurück, »hab einiges mit dir zu bequatschen.« Sie stellte ihre Kaffeetasse in die Spüle und band sich die Haare zu einem Dutt zusammen. Heute würde ein guter Tag werden.

Ihre Freundin war von beiden Ideen begeistert. Na klar, sie würde ein Stückchen mitkommen. Und unbedingt sollten sie dabei Fotos machen. Auch wenn später keine von ihnen beiden mehr genau wusste, wer eigentlich die Idee dazu hatte, meldeten sie sich schon wenig später gemeinsam für einen Fotokurs an. Es fühlte sich an wie der erste Schritt zu einem großen Abenteuer. Doch wie groß dieses Abenteuer tatsächlich werden würde, konnte Sylvia im Sommer 2018 noch nicht ahnen.

Am ersten Abend des Kurses spürte Sylvia die alte Aufregung, die sie so lange vermisst hatte. Es war wie der erste Schultag, nur dass sie sich dieses Mal freiwillig eingeschrieben hatte. Vor ihr lag ihre neue Kamera, glänzend und bereit für alles, was kommen würde. Die Theorie war anspruchsvoll, aber nicht abschreckend. Es ging um Blende, Belichtungszeit und ISO – Begriffe, die Sylvia bisher nur am Rande wahrgenommen hatte. Doch plötzlich machte alles Sinn. Mit jedem Klick, mit jeder Anpassung sah sie, wie sich die Bilder veränderten – wie die Welt durch ihre Augen eine neue Tiefe bekam.

»Woah«, murmelte sie leise, während sie die Kamera leicht drehte, um die Einstellungen zu prüfen. Das war es also, wovon alle sprachen. Ihre Freundin grinste nur. »Ich kann es gar nicht abwarten, das alles auf der Reise auszuprobieren.«


Aufbruch ins Unbekannte

Der Sommer wurde kleiner, der Herbstwind pustete die letzten warmen Wochen vor sich her. Und dann war es endlich so weit: Im Dezember 2018 schnallte Sylvia sich einen übergroßen Rucksack auf den Rücken. Und hängte sich einen fast ebenso großen vor den Bauch. Mit ihrer neuen Kamera im Gepäck und einer Sehnsucht nach etwas Größerem, zog sie los. Es sollte nicht nur eine Reise werden, sondern auch eine Suche – nach Momenten, nach Geschichten und vielleicht auch ein bisschen nach sich selbst.

Ihre Freundin begleitete sie für drei Wochen. Gemeinsam fuhren sie durch verwinkelte Gassen kleiner Dörfer, erklommen Aussichtspunkte, um den Sonnenaufgang zu sehen, und verbrachten Abende damit, Bilder zu sichten. Die Kamera war immer dabei. Jede Szene, jedes Lichtspiel schien nach Aufmerksamkeit zu rufen.

Als Sylvia alleine weiterzog, wurde die Reise noch intensiver. Sie war ihr eigener Begleiter, ihre eigene Herausforderung. Die Tage verbrachte sie mit der Kamera in der Hand, immer auf der Suche nach dem nächsten Motiv: eine alte Frau, die Gemüse auf einem Markt verkaufte, Kinder, die barfuß durch eine staubige Straße liefen, oder das Spiel der Farben im Sonnenuntergang. Alles wurde festgehalten. Die Nächte nutzte sie, um die Bilder zu sichten, zu bearbeiten und an ihre Familie und Freunde zu schicken. Es war ihr Weg, sie an dieser Reise teilhaben zu lassen.

Diese Bilder waren mehr als nur Erinnerungen. Sie waren eine Art Tagebuch, eine Sammlung von Momenten, die Sylvia für sich selbst bewahren wollte. Abends, wenn sie ihre Kamera beiseitelegte und die Bilder durchging, spürte sie eine leise, aber beständige Zufriedenheit. Sie war nicht nur unterwegs, sie war auf einem Weg – ihrem Weg. Und mit jedem Klick der Kamera wurde dieser Weg klarer. Sie spürte, wie die Fotografie sich langsam, aber sicher in ihrem Leben ausbreitete.

»Vielleicht sollte ich ihr sogar noch mehr Platz geben?«, dachte Sylvia.

Ihr fielen die Worte ihres Fotokurs-Lehrers wieder ein. Er hatte die Fotoakademie in Köln erwähnt. Sollte sie dort noch studieren? Immer wieder öffnete sie die Website auf ihrem Handy. Scrollte durch das Kursangebot und blieb immer wieder an der Absolventenseite hängen, bevor sie das Handy eingeschüchtert wieder in die Tasche steckte. Doch der Gedanke ließ sie nicht los.

Nach den Wochen des Alleine-Reisens begleitete sie ihr Verlobter Manu auf der nächsten Etappe. Mit einem gemieteten Camper fuhren sie durch Neuseeland. Nach jeder Straßenbiegung wurden sie von neuen Naturwundern empfangen: Farnwälder, die bis an weiße Sandstrände reichten, sanft geschwungene Wiesen, die sich im Wind wiegten, und eisblaue Gletscher, die in der Ferne glitzerten. Es war wie ein Traum – doch Sylvia war immer wieder abgelenkt. Ihre Gedanken kehrten unaufhörlich zu einem Thema zurück: der Fotoakademie.

Eines Abends saßen sie im Camper, die Türen weit geöffnet, sodass sie das Rauschen der Wellen hören konnten. Sylvia scrollte gedankenverloren auf ihrem Handy, bevor sie seufzte und das Gerät auf den kleinen Tisch legte.

»Was ist los?«, fragte Manu und schaute sie aufmerksam an.

»Ich überlege, doch mehr aus der Fotografie zu machen«, sagte Sylvia schließlich, fast zögerlich. »Aber…« Sie brach ab, lehnte sich zurück und blickte hinaus auf den Sternenhimmel. »Ich habe mir die Seite der Fotoakademie angeschaut. Die Absolventenseite ist einfach… krass. Ich meine, was die da machen – das ist so weit weg von dem, wo ich jetzt bin. Ich glaube, das schaffe ich nie.«

Manu lächelte und legte eine Hand auf ihre. »Aber schau mal«, sagte er ruhig. »Das ist doch das, was sie am Ende gemacht haben. Sie haben nicht da angefangen. Sie haben da angefangen, wo du jetzt bist.«

Sylvia schwieg, aber seine Worte ließen etwas in ihr aufleuchten.

»Meinst du?«, fragte sie schließlich, ihre Stimme leise.

»Klar. Denk doch mal an die Fotos, die du jetzt schon machst. Du hast ein Auge für Details, für Licht, für Geschichten. Und stell dir vor, was du mit der richtigen Anleitung alles machen könntest.«

Seine Zuversicht war ansteckend, und während sie noch lange an diesem Abend redeten, begann Sylvia, den Gedanken weniger als eine Fantasie und mehr als eine echte Möglichkeit zu sehen.

Auf dem Rest der Reise wurde der Wunsch immer stärker. Jeden Sonnenaufgang, den sie festhielt, jedes Gespräch über ihre Pläne, jede neue Erfahrung, die sie mit ihrer Kamera dokumentierte, fachte das Feuer in ihr weiter an.


Vom Hobby zur Leidenschaft

Als sie schließlich nach Deutschland zurückkehrten, entdeckte Sylvia, dass die Fotoakademie einen Tag der offenen Tür veranstaltete. »Ich glaube, ich sollte da hingehen«, sagte sie zu Manu, der sie nur ermutigend anlächelte.

Am Tag des offenen Tür stand sie vor dem Eingang der Akademie, das Herz bis zum Hals klopfend. Doch als sie die Schwelle übertrat, fühlte es sich richtig an. Hier wollte sie hin. Hier sollte die nächste Etappe ihrer Reise beginnen. Und noch bevor der Tag vorbei war, hatte sie ihre Bewerbung abgegeben.

Im Herbst 2019 ging es los – gut ein Jahr, nachdem sie ihren ersten Kamerakurs gemacht hatte. Schon in den ersten Wochen merkte sie, dass es kein Spaziergang werden würde. Die Tage an der Akademie waren lang, die Aufgaben anspruchsvoll. Sylvia lernte, wie man Glas zum Glänzen bringt und Metall zum Funkeln, wie man Licht formt und Schatten kontrolliert. Sie hielt zum ersten Mal eine Kamera in den Händen, deren Wert ihr fast den Atem nahm. Aber auch wenn sie technisch immer versierter wurde, blieb ein Teil von ihr rastlos. Die Fotos, die sie machte – Stillleben, Kinderporträts, Hochzeiten – waren sauber, korrekt und technisch einwandfrei. Doch es war, als würde ein Funke fehlen. Trotzdem blieb sie dran und probierte sich weiter aus.

Und dann wurde Sylvia schwanger. Ein Jahr lang wollte sie das Studium ruhen lassen, sich ganz aufs Mamasein konzentrieren. Doch während es zunächst so aussah, als würde die Pausetaste in ihrem Leben gedrückt werden, war es vielmehr ein Hebel, der etwas Neues in Gang setzte – und ihrer Fotografie die bislang fehlende Richtung gab. Denn während eine Geburt wohl jede Frau auf die eine oder andere Art veränderte, brachte sie bei Sylvia einen neuen Gedanken hervor: Das möchte ich fotografieren. Diese Magie, diese Stärke, dieses Wunder wollte sie festhalten.

Dieser Gedanke begleitete sie durch das erste Mama-Jahr. Er schwirrte durch ihren Kopf, als sie mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter zu einem drei Monate langen Abenteuer durch Kanada aufbrach. Er war da, als sie den Fotografenschmiede-Podcast hörte, während ihre Kleine neben ihr schlief und der Abendwind durch die Wälder Kanadas wehte. Tine sprach über Fotografinnen, die den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hatten. Sie sprach über Zweifel, Herausforderungen und die Freiheit, die mit diesem Weg kam. Sylvia hatte das Gefühl, direkt angesprochen zu werden. Nach jeder Folge wuchs in ihr der Gedanke: »Warum eigentlich nicht? Was hält mich davon ab?«

Zurück in Deutschland sprach sie mit einer guten Freundin darüber.

»Du musst dir jetzt mal eine Website bauen«, sagte die Freundin bestimmt, während sie ihre Kaffeetasse abstellte. »Du hast so tolle Bilder, Sylvia. Die müssen raus in die Welt.«

Sylvia lachte verlegen. »Aber womit denn? Ich habe ein paar gute Fotos, aber nichts, was wirklich zusammenhängt.«

Die Freundin schüttelte den Kopf. »Quatsch. Fang einfach an. Der Rest kommt von allein.«

Als Sylvia nach einem Jahr wieder an die Akademie zurückkehrte, hatte sie mehr als nur die Kamera dabei. Sie hatte eine Vision, die sie endlich verfolgen wollte. Doch es fehlte noch etwas – ein Funke, eine Richtung, die alles zusammenführte. Der kam, als ein Dozent eines Tages beiläufig fragte:

»Sag mal, Sylvia, was möchtest du eigentlich für deine Diplomarbeit fotografieren?«

Sylvia zögerte. Es war eine Frage, die sie sich selbst schon so oft gestellt hatte. Doch laut auszusprechen, was sie dachte, fühlte sich plötzlich beängstigend an.

»Geburten«, sagte sie schließlich leise.

Der Dozent hob eine Augenbraue und lächelte. »Geburten?«

»Ja. Aber…«, Sylvia hielt inne, suchte nach Worten. »Das ist natürlich viel zu kompliziert. Ich habe ein kleines Kind zu Hause. Geburten sind unberechenbar, so intim. Vielleicht auch zu viel für mich.«

»Ach was«, sagte er, lehnte sich zurück und sah sie an. »Das bist genau du, Sylvia. Trau dich.«

Diese Worte blieben hängen. Sie ließen ihr keine Ruhe. Und so entschied sie, es zu versuchen. Ein Jahr Auszeit, ein Jahr Neuanfang – und jetzt, zurück an der Akademie, war sie bereit, alles in die Tat umzusetzen.


Die erste Geburt

Die Worte ihres Dozenten ließen Sylvia nicht los. Immer wieder dachte sie daran, wie bestimmt er gesagt hatte: »Das bist genau du.« Aber wie sollte sie anfangen? Geburten zu fotografieren, war nichts, wofür man einfach eine Anzeige schalten konnte. Es brauchte Vertrauen – ein tiefes, unerschütterliches Vertrauen. Und Sylvia hatte weder Referenzen noch Erfahrung. Nur den Wunsch, diese Momente einzufangen, die so viel bedeuteten.

»Ich brauche eine Familie«, dachte sie. Jemanden, der bereit war, ihr diese Chance zu geben – trotz aller Unsicherheiten. Zwischen Studium, Familienalltag und der Arbeit an ihrer Website begann sie, nach der passenden Gelegenheit zu suchen. Parallel dazu sprach sie mit Hausgeburts-Hebammen, erzählte von ihrem Projekt und ließ ihre Begeisterung durchblicken. Doch wie überzeugt man werdende Eltern, wenn man nichts vorweisen kann? Keine Referenzen, keine Beispielbilder? Ganz einfach: mit etwas Glück.

Eine Hebamme stellte den Kontakt zu einer Familie her, die zu ihrer Überraschung offen für die Idee war. Sie traf die werdenden Eltern an einem Mittwoch. Mit klopfendem Herzen erklärte Sylvia ihre Vision und machte von Anfang an klar: »Ich verspreche euch nichts, außer dass ich mein Bestes gebe. Ein Bild, das euch gefällt, wird bestimmt dabei sein. Aber mehr kann ich euch nicht garantieren.«

Die Mama lachte. »Das klingt gut«, sagte sie. Doch gleich darauf trat das nächste Problem auf: Der errechnete Geburtstermin war am Wochenende. Und genau an diesem Wochenende hatte Sylvia einen Freundinnen-Trip geplant. Der erste seit Ewigkeiten.

»Ich kann das nicht absagen«, gestand sie.

Und zu ihrer Überraschung zuckte die Mama entspannt mit den Schultern. »Kein Problem. Montag reicht völlig. Ich habe im Gefühl, dass der Kleine erst am Montag kommt.«

»Aber das kannst du doch gar nicht wissen.« Sylvia war gleichzeitig erleichtert und verwirrt, skeptisch und doch voller Vorfreude. Vielleicht, ganz vielleicht würde das ja wirklich klappen.

Sie verbrachte das Wochenende mit ihren Freundinnen und kam wie geplant am Sonntagabend wieder zu Hause an. Und tatsächlich, der kleine Mann war noch im Bauch.

Mehr noch: Am frühen Montagmorgen, um 4:18 Uhr, klingelte Sylvias Handy. »Es geht los«, sagte der werdende Vater. Sylvia sprang aus dem Bett, schnappte sich ihre Tasche und fuhr durch die dunkle Stadt. Sie parkte, klingelte an der Haustür und war um 20 vor 5 bei der Familie. Der Raum war still, nur das gedämpfte Licht und die leisen Stimmen der Hebamme durchbrachen die Dunkelheit. Sylvia fühlte, wie ihre Nervosität einem Gefühl von fokussierter Ruhe wich.

Kurz nach 5 Uhr kam der kleine Junge zur Welt. Sylvia hielt den Moment fest: die ersten Atemzüge, die erschöpften, aber strahlenden Augen der Mama, die sanfte Berührung des Vaters. Die Atmosphäre war pur, ungefiltert und echt. Erfüllt von einer Ehrlichkeit, die sie tief berührte. Es war, als hätte sie endlich gefunden, wonach sie all die Jahre gesucht hatte.

Die Bilder wurden wundervoll. Die Familie war begeistert und erlaubte Sylvia, fast alle Aufnahmen auch zu verwenden. Eines der Fotos wurde zu einem ihrer absoluten Lieblingsbilder. Es zeigte das Baby bei seinem ersten Schluck Milch. Die Haare kleben noch am Köpfchen. Die winzige Hand hält sich an der Mama fest. Die Augen geschlossen. Liebe, Vertrauen und unbändige Stärke. Dieses Bild wurde zu ihrem Symbolfoto, zu einem Meilenstein, der den Anfang ihres Weges markierte. Sie ließ es später auf ihre Visitenkarten drucken.

»Das ist es«, dachte Sylvia oft, wenn sie das Foto betrachtete. »Hier hat alles begonnen.« Es war nicht nur der Beginn ihres Weges als Geburtsfotografin – es war der Moment, in dem sie ihre Bestimmung gefunden hatte.


Feuerwehrgefühle

Sylvia liebte das Unvorhersehbare. Die Geburtstermine, die sich nicht planen ließen, die Anrufe mitten in der Nacht, die plötzlichen Wechsel von Alltag zu Ausnahmezustand – all das brachte eine Energie in ihr Leben, die sie nicht mehr missen wollte. Es erinnerte sie an ihre Zeit bei RTL, wo sie als Referentin in der Geschäftsführung immer bereit sein musste, ihren Plan über den Haufen zu werfen. Wenn der Tag so schön durchgetaktet war und plötzlich jemand ins Büro stürmte und »Breaking News!« rief, musste alles stehen und liegen gelassen werden. Jetzt war es nicht mehr die Redaktion, sondern werdende Eltern – und statt Eilmeldungen hieß es jetzt »breaking Fruchtblase«.

Dieses Adrenalin, dieser plötzliche Wandel, ließ sie sich lebendig fühlen. Es war ein Gefühl, das sie kannte, das sie liebte, das sie fast schon brauchte. »Kein Tag ist wie der andere«, dachte sie oft, während sie nach einem Anruf ihre Tasche packte, die Kamera überprüfte und in Gedanken schon den Ablauf durchging. Was sie aber besonders faszinierte, war, wie geerdet sie gleichzeitig war, sobald sie den Raum betrat. Bei einer Geburt zählte nur der Moment. Die leisen Stimmen, die Anspannung, die kleinen Zeichen, die ihr sagten, dass etwas Magisches bevorstand.

Und doch war es nicht nur das Adrenalin, das sie anzog. Es war die Verbindung. Die Nähe zu den Familien, die sie an diesen einmaligen Momenten teilhaben ließen. Sie wusste, dass sie sich manchmal wie ein Fremdkörper in diesen intimen Augenblicken fühlte, doch mit der Zeit lernte sie, sich fast unsichtbar zu machen, sich in den Raum einzufügen, ohne ihn zu stören. Sie war Beobachterin und Erzählerin zugleich.

Nach jeder Geburt saß Sylvia mit ihrem Laptop und ihrer Kamera, scrollte durch die Bilder und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Die Bilder erzählten Geschichten, die Worte nicht erfassen konnten. Sie spürte das Chaos, die Liebe, die unbändige Kraft und die zerbrechliche Ruhe, die in diesen Räumen existierte. Es war eine Welt, die sie nie müde wurde, zu entdecken.

Trotz all der Unvorhersehbarkeit fühlte sie sich sicher in ihrem Element. Sylvia wusste, dass sie nicht alles kontrollieren konnte – weder das Timing noch die Lichtverhältnisse oder die Stimmung im Raum. Aber sie wusste, dass sie die Essenz des Moments einfangen konnte, so wie sie ihn sah. Und das war es, was sie so sehr liebte.


Familie & Herausforderungen

Mit der Unterstützung ihrer Familie baute Sylvia ihr Business weiter auf. Ihr Mann und ihre Mama hielten ihr den Rücken frei, während sie ihre Vision verfolgte. Ihr Mann sprang oft ein, wenn kurzfristig ein Geburtstermin anstand, und ihre Mama übernahm mit Begeisterung die Betreuung ihrer Tochter, wenn Sylvia sich wieder einmal spontan ins Auto setzte. »Mach du nur«, sagte ihre Mama oft. »Du kannst das.«

Doch es war nicht immer einfach. Im Frühling 2024 brachte sie ihr zweites Kind auf die Welt. Und das Leben wurde noch turbulenter. Sylvia wollte alles: Mama sein, ihr Business weiter ausbauen und sich gleichzeitig noch kreative Freiräume bewahren. Sie merkte schnell, dass die Planung oft an der Realität scheiterte – vor allem, weil sich Geburten nicht in einen Kalender eintragen ließen.

Im Sommer 2024 wurde es besonders chaotisch. Ein Baby ließ sich zwei Wochen mehr Zeit im Bauch. Zwei andere kleine Wunder hatten es hingegen eilig und kamen zwei und drei Wochen vor dem errechneten Termin. Am Ende zählte Sylvia: Eine Geburtsreportage und sieben Wochenbettshootings in nur fünf Wochen – dabei hatte sie sich noch kaum in ihrer Rolle als zweifache Mama eingelebt.

Sie liebte die Arbeit und genoss jeden Moment hinter der Kamera, aber sie spürte auch, dass sie an ihre Grenzen kam. »Wie soll ich das alles schaffen?« dachte sie eines Abends, als sie um Mitternacht noch am Laptop saß, Bilder sortierte und bearbeitete, während die restliche Familie längst schlief.
Sylvia wusste, dass sie etwas ändern musste. Sie begann, ihre Termine genauer zu planen, sich selbst Grenzen zu setzen und bewusst Pausen einzubauen. Sie lernte, auch mal Nein zu sagen – ein Prozess, der ihr alles abverlangte. »Ich kann nicht alles gleichzeitig machen«, sagte sie sich immer wieder, auch wenn es schwerfiel, das wirklich zu akzeptieren. Und ihr fiel auf, dass sie eigentlich niemandem etwas beweisen musste. Alle unterstützten sie. Die einzige, die manchmal zweifelte, war sie selbst.

Mit der Zeit würde sie ihre Balance finden. Sie legte ihre Prioritäten neu fest, plante realistische Zeitfenster ein und nahm sich bewusst Tage frei, um mit ihrer Familie einfach nur zu sein. Ohne Handy, ohne Arbeit, ohne Druck.

Sylvia erkannte, dass es nicht darum ging, immer alles perfekt zu machen. Es ging darum, das zu tun, was für sie und ihre Familie funktionierte – und dabei ihre Leidenschaft nicht zu verlieren. Sie wollte ihr Business nachhaltig aufbauen. Stück für Stück, Schritt für Schritt – mit der Unterstützung ihrer Familie und einem klaren Ziel vor Augen. Damit das Herzklopfen nicht verloren ging.


Die Kunst der Imperfektion


Und dieses Herzklopfen fand sie nicht nur in den Geburten. Die waren zwar der Anfang und würden wohl auch immer das Herzstück ihrer Fotografie bleiben, aber Sylvia spürte, dass sie mehr wollte. Es waren nicht nur die ersten Atemzüge und die rohen, ungeschönten Momente der Geburt, die sie faszinierten – es war die ganze Welt um diese Augenblicke herum. Stillen, Neugeborenen-Shootings, Familienmomente – all das begann, Teil ihrer Arbeit zu werden. Sie suchte nach der Verbindung, nach der echten Geschichte, die hinter jedem Bild steckte.

Dabei fiel ihr schnell auf, dass es Perfektion oft gar nicht brauchte. Im Gegenteil. Sylvia fand ihre größte Inspiration in den ungeplanten Momenten. Wenn ein Kind während eines Familienfotos lachend aus dem Bild rannte oder eine frisch gebackene Mama beim Stillen plötzlich loskicherte, weil das Baby sie mit einem kleinen Stramplertritt überraschte. Sie liebte diese kleinen Augenblicke, die niemand vorhersehen konnte, und sie begann, sie bewusst zu suchen.

»Kein Kind muss stillsitzen«, sagte sie oft. »Und kein Lächeln muss perfekt sein.« Für Sylvia ging es nicht darum, die perfekte Szenerie zu schaffen, sondern das einzufangen, was wirklich da war: die chaotische, berührende und wunderschöne Realität. Mit der Zeit wurde ihr klar, dass genau das ihre Bilder so besonders machte. Jede Aufnahme erzählte eine Geschichte – nicht die Geschichte, die inszeniert worden war, sondern die, die spontan aus dem Leben entstand.
Besonders bei den Neugeborenen-Shootings verließ Sylvia die klassischen Pfade.

Sie stellte schnell fest, dass sie Babys nicht in Körbchen oder auf Decken posieren wollte. Stattdessen fing sie die intimen Momente ein, in denen Eltern ihr Neugeborenes einfach hielten, küssten oder mit ihm kuschelten. Sie mochte es, wenn das Licht durch das Wohnzimmerfenster fiel und die Szene in sanfte Wärme tauchte.
»Es ist nicht wichtig, dass alles perfekt aussieht«, dachte sie oft. »Es ist wichtig, dass es sich echt anfühlt.«

Sylvia begann, Still-Momente zu fotografieren, ein Thema, das viele Familien zunächst skeptisch sahen. Doch wenn sie die ersten Bilder sahen, änderte sich das schnell. Ihre Aufnahmen zeigten keine Inszenierung, sondern die tiefe Verbindung zwischen Mama und Kind. Diese Intimität, diese Nähe – sie war für Sylvia genauso kraftvoll wie die Geburtsfotografie.
Die Familien, die sie begleitete, bemerkten schnell, dass sie sich bei Sylvia nicht verstellen mussten. Es gab keinen Druck, keine starren Vorgaben.

»Seid einfach, wie ihr seid«, sagte sie immer wieder. Und genau das machte ihre Bilder aus: die Freiheit, echt zu sein.

Mit jedem Shooting wuchs ihre Leidenschaft für die Geschichten hinter den Bildern. Es war nicht mehr nur Fotografie, es war ein tiefer Einblick in das Leben ihrer Kunden – in die kleinen, flüchtigen Momente, die für immer bleiben sollten. Sylvia wusste: Sie hatte nicht nur einen Beruf gefunden, sondern eine Berufung.

Ende

Tine sitzt auf dem Sofa mit Kaffee in der Hand.

Hi, ich bin Tine

Ich liebe es, Geschichten von Fotografinnen zu erzählen – von den ersten Schritten bis zu großen Erfolgen. Am liebsten bei einer Tasse Kaffee, denn jede Geschichte entfaltet sich wie ein gutes Gespräch: inspirierend, ehrlich und voller unerwarteter Wendungen. Lass dich mitnehmen, lerne aus den Erfahrungen anderer und finde neue Impulse für deinen eigenen Weg.


🎙️ Diese Geschichte gibt’s auch zum Hören!
Lehn dich zurück und lausche der Erzählung im Fotografenschmiede-Podcast.


Das gedruckte Magazin der 5-Tage-Challenge.

Bereit für deine eigene Geschichte?